Wie ich Willie Dixon, den Vater des Blues, kennen lernte
Willie Dixon hat die Entwicklung des Chicago-Blues in den 1950er und 1960er Jahren entscheidend geprägt. Als Studiomusiker und Hausbassist bei Chess Records ist er auf zahlreichen Plattenaufnahmen zu hören. Als Bassist von Chuck Berry trug er auch zum Siegeszug des Rock’n’Rolls bei. Zudem war Dixon als Songwriter und Produzent für die Chicagoer Blues-Label Chess Records und Checker Records eine regelrechte Songfabrik. Er schrieb viele der bedeutendsten Blues-Songs, wie Hoochie Coochie Man, Evil oder Back Door Man, die vor allem in den Interpretation von Muddy Waters und Howlin’ Wolf bekannt wurden. Aber auch viele andere Blues-Legenden griffen seine Songs auf.
Willie Dixon schrieb Klassiker wie “I just wanna make love to you”, “Spoonful” oder auch “Hoochie Coochie Man”.
Ich hatte das große Glück – und die Ehre – mit ihm Plattenaufnahmen zu machen.
Es muss irgendwann im Jahr 1990 gewesen sein. Ich hatte mehrere Auftritte mit der Sängerin Jeanne Carroll gespielt und sie erzählte mir dauernd, wenn sie alles kennt. Und vor allem: Wer ihr noch einen Gefallen schuldet. Bill Cosby. Willie Dixon. Und es fielen noch andere berühmte Namen. Aber der von Willie Dixon war so oft dabei, dass ich ihr eines Tages sagte: „Na, wenn er Dir einen Gefallen schuldet, dann ruf ihn halt an!“. Ich reichte ihr das Telefon. Und sie zog ein kleines Büchlein heraus, blätterte darin und fand die Privatnummer von Willie Dixon.
Jetzt muss man wissen, dass Willie Dixon in der Blues-Szene ein Star gewesen ist. Er war als Talent-Scout, Komponist, Studio-Producer und Bassist für Chess-Records in Chicago maßgeblich für die Erfolge von Muddy Waters, Howling Wolf, Chuck Berry und vielen anderen verantwortlich. Aus seiner Feder stammen Welthits wie „Hoochie Coochie Man“ oder auch „I just wanna make love to you“. Er war es, der die Musiker für die berühmte Konzertreihe „American Folk Blues Festival“ zusammen stellte. In den 1960er Jahren brachten diese Konzerte die besten schwarzen Bluesmusiker in die philharmonischen Konzerthallen in Europa.
Mir war also durchaus bewußt, wer Willie Dixon ist, als Jeanne Carroll den Telefonhörer in die Hand nahm und wählte. Als am anderen Ende jemand abhob, sagte sie kurz, wer sie sei und dass sie Willie sprechen möchte. Der war schon am Apparat. Beide hatten sich scheinbar lange nicht mehr gesprochen. Eine kleine Unterhaltung folgte, so wie Menschen es tun, wenn eine große Zeitspanne zwischen dem letzten Treffen liegt, man sich aber irgendwie damals gut verstanden hat.
Irgendwann erwähnte Jeanne Carroll, ob er sich erinnern könne, dass er ihr mal ein „Album“ versprochen habe. Und er konnte. Jeanne sagte ihm, sie sei jetzt in Deutschland und hätte da einen jungen Mann – mich – der das ganze organisieren könne….und reichte mir den Hörer.
Überrascht nahm ich den Hörer und fragte ungläubig, ob da tatsächlich Willie Dixon am anderen Ende der Leitung wäre. Er bejahte. Und ich fragte nach, ob es tatsächlich stimme, dass er Jeanne Carroll ein Album versprochen habe. Auch das bejahte er. Mir stockte der Atem. Trotzdem fragte ich weiter, ob es möglich sei, dass zu organisieren. Er antwortete, ich solle alle Details mit seinem Manager Scott Cameron besprechen. Der würde sich um die Details kümmern. Aber, so warnte er mich, ich solle mich nicht abwimmeln lassen, denn Mr. Cameron würde das so handhaben mit Leuten, die einfach so anriefen. Und er riet mir, dass ich mich nicht auf ein Gespräch über Honorare einlassen solle. Er habe Jeanne dieses Album in den 1960er Jahren versprochen. Und er würde sein Versprechen halten.
Emsig begann ich in den nächsten Tagen, das Projekt zu planen. Die Aufnahmen würden in Los Angeles, Kalifornien stattfinden müssen. Dort lebte Willie Dixon. Wir würden eine Band benötigen. Vor Ort. Ein Studio. Hotel. Flüge und so weiter. Ich war voll in meinem Element.
Es folgten Telefonate mit Scott Cameron, der sich zunächst weigerte mit mir zu sprechen. Es aber dann doch musste, weil Dixon ihm sagte, er wolle dieses versprochenen Album machen. Willie erwähnte auch, er würde uns eine tolle Band zusammen stellen. Wir sollten die Liedauswahl treffen.
Während der nächsten Wochen konkretisierte sich die Produktion. Scott Cameron besorgte uns ein Rehearsal-Studio, so daß wir drei Tage vor den eigentlichen Aufnahmen mit der kompletten Band proben konnten. Und er organisierte auch eines der besten Aufnahmestudios in Hollywood. Bezahlen musste ich im Voraus für beide. Ich hatte kein gutes Gefühl, sehr viel Geld an jemand in Amerika zu bezahlen, den ich nicht kannte. Aber Dixon beruhigte mich am Telefon. Beide Studios seien vertauenswürdig. Mit einer befreundeten Plattenfirma hatte ich hier für Europa einen Deal ausgehandelt. Ich würde die Produktionskosten vor Ort übernehmen. Die Plattenfirma die Kosten für Pressung, GEMA, Vertrieb. Für mich ein guter Deal.
Willie Dixon schickte eine Cassette – ja, damals waren es noch gute, alte Cassetten – mit einer Songauswahl, Textblättern mit Harmonieabfolgen und auf der Cassette eine Erklärung seinerseits, wie er sich vorstellen könne, dass dies oder jenes Lied zu spielen sei. Er sang sie auch ins Mikro für die Cassette. Das gute Stück als auch die original Textblätter von Willie Dixon habe ich noch zu Hause.
Vereinbart war, dass wir am ersten Januar 1991 von Frankfurt a. Main direkt nach Los Angeles fliegen sollten. Am Silvester-Abend hatten Jeanne Carroll, Angela Brown aus Chicago und ich noch einen Auftritt im Westerwald. Das passte fahrtechnisch hervorragend, denn der Frankfurter Flughafen war gerade mal 100 Kilometer entfernt. Jeanne`s Freundin Angela Brown begleitete uns nach Los Angeles. Natürlich wollte sie den großen Willie Dixon ebenfalls kennen lernen.
Kurz vor Weihnachten erhielt ich ein Fax – ja, das war damals üblich – von Scott Cameron, in dem stand, dass ich mich täuschen würde, wenn ich glaubte, Willie Dixon würde die Band zusammen stellen. Das müsse ich schon selber machen. Auch hatte er mir eine Rechnung über sein Honorar für die Organisation vor Ort geschickt, die ich sofort bezahlt hatte. Ins ungewisse. An jemand, den ich nicht kannte. Und dann kurz vor Abflug so eine Nachricht! Ich war zermürbt. Aber Jeanne Carroll beruhigte mich. Sie meinte nur: „Du spielst Klavier. Willie spielt Bass. Und ich singe. Passt doch!“
Wie dem auch sei, ich hatte das Gefühl, wir würden das dann schon irgendwie in Los Angeles geregelt bekommen.
Am ersten Januar 1991 flogen wir zu dritt nach Los Angeles: Jeanne Carroll, ihre Freundin Angela Brown und ich.
Erster Stop nach der Ankunft war bei Willie Dixon zu Hause im Stadtteil Glendale. Dort bewohnte er mit seiner Frau Marie und vier seiner insgesamt sechszehn Kinder ein schönes Haus mit Pool und zum Studio umgebauter Garage. Im Wohnzimmer hatte er einen großen Ohrensessel und einen Flügel. Er wollte mich unbedingt spielen hören um sich ein Bild machen zu können. Ich setzte mich also an die Tasten und los gings. Flugs holte eine seiner Töchter einen Bass, brachte ihn zu ihrem Vater, der gemütlich im Ohrensessel Platz genommen hatte und wir begannen zu jammen. Was für ein Erlebnis!
Auch Jeanne und Angela jammten mit, die halbe Nachbarschaft kam vorbei. Wie aus dem nichts war eine gigantische Blues- und Boogie-Party im Gange. Irgendeiner brachte ein Saxophon mit, der nächste eine Gitarre, dann kam einer mit Schlagzeug. Zur Freude des gesamten Viertels jammten wir was das Zeug hergab.
Später am Abend fragte ich die Musiker mit ihren Instrumenten, was sie denn in den nächsten Tagen machen würden? Ich hatte das Gefühl, die würden gut mit uns im Studio harmonieren. Da lachten sie alle auf und sagten: „Wir sind mit Dir im Studio. Willie hat uns gebucht.“
Verwundert sah ich sie an. Und zeigte ihnen das Fax von Scott Cameron. Willie Dixon war sauer. Ich glaubte ihm auf`s Wort als er mir versicherte, dass er davon nichts wüsste. Immerhin hätten er und ich ausgemacht, dass er Musiker für die Aufnahmen finden würde. Und die seien jetzt hier.
Ich nickte. Und wollte wissen, wie ich die Jungs bezahlen sollte? Denn Bargeld hatte ich nicht genügend dabei, um jeden einzelnen ein Honorar nach den Aufnahmen in die Hand zu drücken. Unerfahren wie ich war, wußte ich auch nicht, wieviel denn jeder bekommen würde. Sie lachten nur und sagten, ich solle ihnen soviel bezahlen, dass die Gewerkschaft zufrieden sei.
Als ich sie fragte, wieviel das denn genau sei, meinten sie: „500 Dollar pro Song pro Musiker“. Ich war der einzige Weiße unter gestandenen, schwarzen Bluesmusikern – und muss wohl noch weisser geworden sein als ich eh schon war. Schweren Herzens teilte ich ihnen mit, dass ich nicht soviel Bargeld dabei hätte und mir dass auch nicht leisten könne. Da wollten sie nur wissen, wieviel ich budgetiert hatte? Ich überlegte kurz, rechnete im Kopf – immerhin hatte ich einen 10 Stunden Flug und eine grandiose Jam-Session hinter mir – und nannte eine Zahl. Sie lachten immer noch – und reichten mir die Hand: „Deal“.
Zwei Tage später trafen wir uns im Übungs-Studio, dass Wilie Dixon ausgesucht – und ich bezahlt hatte. Klein, ein wenig schmuddelig, mit einem Yamaha CP70 Elektro-Flügel. Aber für`s gemeinsame Üben reichte es aus. Wir hatten folgende Besetzung zusammen: Willie Dixon, Bass; Jeanne Carroll, Vocal; Stan Beherens, Saxophon, Cash McCall, Gitarre, Al Duncan, Schlagzeug und ich am Klavier.
Willie Dixon`s Erfahrung als Studio-Produzent war mir eine große Hilfe. Er hatte genau im Kopf, welches Instrument was und wann spielt und wie wir alle Jeanne`s Gesang am besten zum Klingen brachten. Das Üben hat großen Spaß gemacht. Selten habe ich so viel am Klavier gelernt. Willie Dixon zeigte mir, wie er sich manche Passagen vorstellte. Er konnte kein Klavier spielen. Setzte sich einfach zu mir und sang mir vor, was er hören wollte. Ich spielte es nach. Und schwupps, er war zufrieden. Nach zwei Tagen waren wir bereit für das große Studio.
In Hollywood eine Platte mit Willie Dixon aufzunehmen, das war für mich – damals war ich Anfang dreissig – ein großartiges Erlebnis. Die Proben hatten sich gelohnt. Wir waren schnell, effektiv und musikalisch gut. Am dritten Tag der Aufnahmen ließ sich zum ersten Mal Scott Cameron blicken. Ein kleiner Mann, mit dickem Bauch und Knopf-Augen. Er spähte in die Runde und ließ nur einen kleinen Satz fallen: „Das klingt verdammt gut…“ Für mich ein großes Lob. Wir begrüßten uns kurz. Dann verschwand er wieder.
Das Studio in Hollywood war für vier Tage gebucht und bezahlt. Aber nach drei Tagen waren wir fertig. Und es gab nichts mehr zu verbessern. Angela Brown, Jeanne`s Freundin aus Chicago, hatte geduldig beim Tonmeister gesessen während wir aufnahmen. Jetzt scharrte sie mit den Hufen und überzeugte mich, dass wir den verbliebenen Tag nutzen sollten, um Duett-Aufnahmen zu machen. Erst wollte ich nicht. Das war Jeanne`s Projekt und Angela hatte eine Gabe, sich immer elegant einzubringen, einfach nur um dabei zu sein.
Aber ich ließ mich überzeugen. Herausgekommen sind die Aufnahmen für die CD „Wild Turkey“, nur Klavier und Angela Brown singt.
Willie Dixon war ganz begeistert von Angela und wollte sie auch in Jeanne`s Aufnahmen einbringen. Aber das lehnte ich ab. Es war Jeanne`s CD. Angela hatte jetzt ihre eigene.
Nachdem wir alles fertig hatten, flogen Jeanne und Angela nach Chicago, um Verwandte zu besuchen. Ich machte mich auf dem Heimweg. Anfang der 1990er Jahre waren Aufnahmen im Studio noch nicht digital, sondern auf tonnenschweren Sendebändern. Ich hatte drei große Pakete dabei. Jedes ungefähr 70 x 70 cm und vier Kilo schwer. Um kein Risiko einzugehen fragte ich bei Fluggesellschaft nach, ob es möglich sei, die drei Pakete mit dem wertvollen Material als Handgepäck einzuchecken. Und ob ich einen Sitzplatz reservieren könne mit Beinfreiheit, um die drei Boxen bei mir zu haben. Die Dame war sehr nett, bestätigte mir alles, auch den Sitzplatz und ich war happy.
Am Flughafen in Los Angeles ging es aber dann schon los. Beim Check-In wußte niemand Bescheid. Der reservierte Sitzplatz war bereits vergeben. Ich bekam mittlere Reihe den mittleren Platz. Und bei der Sicherheitskontrolle zeigten sich die Beamten sehr verwundert, was ich da als Handgepäck im Schlepptau hatte. Einer wollte, dass ich die Sendebänder öffnete. Ich sah ihn und erklärte ihm, dies seien neue Aufnahmen mit Willie Dixon, dem „Vater des Blues“. Anscheinend hatte ich einen Bluesfan erwischt. „Willie Dixon!“ rief er aus, und freute sich. Ich zeigte ihm die Biographie von Willie Dixon, die er mir handsigniert geschenkt hatte. Und schon war es kein Problem, die Boxen mit den Sendebändern mit ins Flugzeug zu nehmen.
Der Rückflug von Los Angeles nach Frankfurt a. Main war eine Tortur. Ich hatte die drei Boxen vor mir und meine Füße akrobatisch herumgeschwungen. 12 Stunden Flug durch eine kurze Nacht. Links neben mir saß eine Dame, die schon 16 Stunden Flugreise von Neuseeland hinter sich hatte. Sie schweißelte kräftig, war stark betrunken und regte sich über alles auf, was während eines Fluges möglich ist. Rechts neben mir saß ein Japaner. Er schlief die ganze Zeit. Aber sehr laut.
Als ich endlich in Frankfurt aus dem Flugzeug stieg, war ich nervlich am Ende. Aber auch stolz. Ich hatte Aufnahmen mit Willie Dixon in der Tasche.
1992 starb Dixon an Herzversagen. 2010 wurde sein Song „Spoonful“ in der Interpretation von Howlin‘ Wolf in die Blues Hall of Fame (Classic of Blues Recording ) aufgenommen.